Cover
Titel
Hausen im wilden Tal. Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600–1800)


Autor(en)
Disch, Nicolas
Reihe
Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 41
Erschienen
Wien 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
548 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rahel Wunderli

Nicolas Dischs Studie ist einem mikrogeschichtlichen Zugang verpflichtet: Er untersucht die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse im Engelberg der Frühen Neuzeit. Mit seinem breiten thematischen Zugang will er «die Lebenswelt der Engelberger Bevölkerung» skizzieren und aufzeigen «wie die Talleute innerhalb gesellschaftlicher Bezüge und vorgefundener Rahmenbedingungen ihre Umwelt deuteten und diese durch ihr Handeln mitgestalteten» (S. 30). Das Beispiel Engelberg soll dabei auch Antworten liefern auf generelle Fragestellungen; so zum Beispiel zur Frage, wie die Pastoralisierung die nordalpine Wirtschaftsweise veränderte, oder wie soziale Netzwerke in einer politischen Mischverfassung funktionierten – die Herrschaft Engelberg hatte ja sowohl Elemente eines Fürstenstaats als auch eines Landsgemeindeorts. Allgemeine kulturhistorische Themen, denen sich die Arbeit widmet, sind das Verhältnis zwischen Schriftkultur und mündlicher Überlieferung und Ausprägungen des barocken Katholizismus.

Als Quellen benutzt Disch hauptsächlich Talprotokolle, einen Bestand, der Gemeinde-, Rats-, Gerichts- und Verwaltungsakten beinhaltet. Seit dem späten 16. Jahrhundert wurden diese Protokolle in hoher Dichte verfasst, und sie sind für eine ländliche Gegend aussergewöhnlich gut erhalten und erschlossen. An vielen Stellen zeigt sich, dass der Autor diesen grossen Quellenkorpus akribisch untersucht und auch manchem Detail Beachtung geschenkt hat. Die vielen Ereignisse und Episoden sind ein wichtiger Bestandteil der Arbeit. Sie vermitteln die Vielgestaltigkeit des Lebens im Hochtal und zeigen die Talbevölkerung als Akteure. Ab und an erschweren sie aber auch den Blick auf Relationen und Trends.

Die Studie ist unterteilt in drei Kapitel zu Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Im ersten Teil beschreibt Disch mit Landwirtschaft, Aussenhandel, Lohnarbeit und Soldwesen die wichtigsten wirtschaftlichen Tätigkeiten der Engelberger Bevölkerung. Diese waren einerseits stark ortsgebunden und andererseits auf überregionale Wirtschaftsräume ausgerichtet. Die Viehwirtschaft beispielsweise, der mit Abstand stärkste Wirtschaftszweig, basierte weitgehend auf den lokalen Ressourcen. Gleichzeitig wurde das Hochtal durch die zunehmende Ausfuhr von Hartkäse eingebunden in Handelsnetze, die von Luzern bis Norditalien reichten. Landwirtschaft wurde in Engelberg in vielfältigen und komplex ineinander verwobenen Nutzungsformen (privat, genossenschaftlich, kollektiv) praktiziert und generierte starke Besitz- und Einkommensunterschiede. Diese wurden noch gesteigert durch einen hoch entwickelten Bodenmarkt. Auch in Bezug auf das Soldwesen zeigt Disch die Relevanz sowohl aussenpolitischer Beziehungen als auch lokaler sozialer Netzwerke (unter anderem entsprechende Familientraditionen) auf.

Das Kapitel über die Gesellschaft widmet sich den sozialen Netzwerken im Tal und beschreibt verschiedene Repräsentationsformen von Macht und Herrschaft. In Bezug auf den zweiten Punkt kommt besonders ausgeprägt das Anliegen des Autors zum Tragen, Talgeschichte nicht mit Klostergeschichte gleichzusetzen, sondern die Komplexität der Beziehungen zwischen Kloster und Talbevölkerung aufzuzeigen. Die Talleute verstanden und inszenierten sich beispielsweise nicht nur als Untertanen, sondern auch als Beschützer des Klosters (S. 328).

Disch zeichnet die gesellschaftliche Schichtung nach und das Bestreben der Eliten, ihren politischen Einfluss zu sichern. Es wird deutlich, wie wichtig die Beziehungspflege, insbesondere innerhalb der Familie, war, um sich für allfällige Notsituationen abzusichern – und zwar für alle gesellschaftlichen Gruppen. Spezielle Beachtung schenkt der Autor den Normen für geschlechtliche Beziehungen. Hier fallen die unkritische Übernahme von Adjektiven aus den Quellen und eine fehlende Sensibilität für die Genderdimension negativ ins Gewicht.1 Es wäre interessant, Engelberg mit dem Val de Bagnes zu vergleichen, das kürzlich von Sandro Guzzi in dieser Hinsicht untersucht worden ist.2

Im Kapitel Kultur sticht vor allem der Abschnitt über das religiöse Leben hervor. Hier, wie auch im Abschnitt über die Landwirtschaft, beschreibt Disch mit detaillierten Hinweisen auf die Ortsgeographie. Um den Leserinnen und Lesern den Zugang zur Engelberger Landschaft zu erleichtern, stellt er an den Anfang des Buches schematisch gezeichnete Landschaftsbilder, wo auch die in den Quellen auftauchenden Flurnamen eingezeichnet sind. Diese Hilfsmittel sollen «einen […] Zugang zur Gedankenwelt der Talleute eröffnen» (S. 33). Tatsächlich wird anhand dieser Verortungen die ausgeprägt räumliche Dimension von Wirtschaft und Kultur deutlich. So illustrieren zum Beispiel die vielen und strategisch platzierten sakralen Bauten und religiösen Zeichen die starke Durchdringung des täglichen Lebens mit religiösen Handlungen und Abläufen. Diese Kultur war eine Folge des klösterlichen Einflusses und wurde gleichzeitig von der Bevölkerung mitgetragen. Interessant wäre gewesen, wenn die soziale Komponente in die räumliche Analyse miteinbezogen worden wäre. Michael Blatter hat am Beispiel der Engelberger Wildheugebieteund ihrer verschiedenen Nutzergruppen eindrücklich gezeigt, wie räumlicheund soziale Topographie zusammengehen konnten.3

1 Als Gegenbeispiel: Claudia Töngi, Um Leib und Leben. Gewalt, Konflikt, Geschlecht im Uri des 19. Jahrhunderts, Zürich 2004.
2 Sandro Guzzi-Heeb, Passions Alpines. Sexualité et pouvoirs dans les montagnes suisses (1700–1900), Rennes 2014.
3 Michael Blatter, Die Veränderung der alpinen Landwirtschaft zwischen dem 14. Und 18. Jahrhundert – am Beispiel des «Wildheuens» in Engelberg, in: Der Geschichtsfreund 163 (2010), S. 169–188.

Zitierweise:
Rahel Wunderli: Rezension zu: Nicolas Disch, Hausen im wilden Tal. Alpine Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600–1800), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 482-485.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 482-485.

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